Anthroposophische Medizin
von Gerhard Kienle

Anthroposophie als Geisteswissenschaft
Die anthroposophische Medizin ist eine Weiterentwicklung der sich auf die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden stützenden Medizin auf der Grundlage der Erkenntnismethoden und Erkenntnisergebnisse der Anthroposophie.
Die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft wurde von Rudolf Steiner (geb 27.2.1861 in Kraljevec, Österreich; gest. 30.3.1925 in Dornach, Schweiz) begründet. Er gab von 1883 bis 1897 Goethes naturwissenschaftliche Schriften in Kürschners Deutscher Nationalliteratur heraus und arbeitete von 1890 bis 1897 an der Sophienausgabe von Goethes Werken in Weimar mit1,2,3. Er begründete den erkenntnistheoretischen Monismus4,5. Nach seiner Übersiedlung nach Berlin entwickelte er ab 1901 die Anthroposophie6,7,8,9. Er sah seine Aufgabe in der Weiterentwicklung der naturwissenschaftlichen Methoden Goethes auf dem Felde der geistigen Forschung (Motto der Philosophie der Freiheit5: Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode). Er stellte Methoden der geistigen Schulung dar10,11,12, die er als eine Erweiterung der in der Naturwissenschaft und Mathematik errungenen Methoden und Erkenntnissicherheit auf die innere Entwicklung des Menschen und auf die geistige Forschung verstand13,14,15. In Anwendung dieser Methoden führte er den Evolutionsgedanken (Darwin und Haekel) und die Metamorphosenlehre Goethes in die physische und geistige Entwicklung von Mensch und Kosmos ein8,16. Er verstand die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft als konsequente Weiterentwicklung der abendländischen Geistesgeschichte, insbesondere der antiken Philosophie von Platon und Aristoteles und des deutschen Idealismus, wie er von Goethe, Schiller, Fichte, Hegel und Schelling vertreten wurde9,17,18,19,20,21,22.
In der Auseinandersetzung mit Kant vertrat Rudolf Steiner mit dem erkenntnistheoretischen Monismus einen neuen Wirklichkeitsbezug, den er bereits bei Goethe als „anschauende Urteilskraft“ (Formulierung von Heinroth) veranlagt sah. Die Trennung der Welt durch Erkenntnisgrenzen in eine erkennbare und eine unerforschliche wurde von ihm strikt zurückgewiesen5,14,23; es komme vielmehr darauf an, wie sich ein Wirklichkeitsgebiet darstellt und wie und mit welchen Beobachtungs- und Denkmethoden es erfaßbar ist19,24,25,26.
Während der Positivismus (Comte) als Erkenntnisergebnis nur das akzeptiert, was mit chemischen oder physikalischen Methoden erfaßt werden kann, geht die Anthroposophie über den gegenständlichen Seinsbegriff dieser Richtung der Naturwissenschaft hinaus. In Fortführung des „Ich“-Begriffs von Joh. G. Fichte (Einleitung der Wissenschaftslehre, Die Bestimmung des Menschen) führt die Anthroposophie zu einem Erfassen des „Ich“ als Seiendem, das nicht aus anderen Beobachtungen gefolgert werden, sondern nur beobachtend erfaßt werden kann5,19.
Das „Ich“ ist der erste, jedem denkenden Menschen im Prinzip zugängliche übersinnliche Sachverhalt, der zugleich als die Quelle aller Bewegung (im Sinne von Platon und Aristoteles) in der menschlichen Organisation erfaßt werden kann. Die Anthroposophie fragt nach dem Seinsgebiet in der Welt, das dem Ich so entspricht wie die außermenschliche Stoffeswelt dem menschlichen Organismus. Es geht hier nicht um Spekulation, sondern um das methodisch sichere Erfassen der Sachverhalte und ihrer Zusammenhänge.
Wenn das „Ich“ die Quelle der Tätigkeit im menschlichen Organismus ist und die Materie im menschlichen Organismus nicht dem allgemeinen Trägheitsprinzip unterliegt, so muß der Begriff des Organismus auf etwas hinweisen, das die Materie im Organismus in einen lebendigen, sich entwickelnden, regenerationsfähigen Zusammenhang bringt und die lebendigen Organe zum Träger der Empfindung und Seelentätigkeit werden läßt. Die Anthroposophie versucht nicht, auf „Lebenskräfte“ o. ä. zu spekulieren, sondern sie beschreibt Methoden, mit denen die lebendigen „Bildekräfte“ und die seelische Organisation erfaßt und mit dem Weltganzen in einen Zusammenhang gebracht werden können. So wie Fancisco Redi das Prinzip der Urzeugung ablehnte, daß sich aus Schlamm spontan niedrige Lebewesen bilden können, so weist die Anthroposophie den spekulativen Glauben zurück, daß aus unbelebter Materie Leben und Bewußtsein entstehen könne. Leben entsteht nur aus Lebendigem, Seelisches aus Seelischem und Geistiges aus Geistigem. Diese Wirklichkeitsbereiche müssen aber durch die ihnen angemessenen Methoden erforscht werden.
Dieser neue erkenntnistheoretische und methodische Wissenschaftsansatz hat nicht nur zu einer neuen Philosophie über den Menschen, sondern auch zu praktischen Ergebnissen geführt. R. Steiner gründete 1924 in Dornach die „Freie Hochschule für Geisteswissenschaft“ mit verschiedenen fachlichen Sektionen. Aus der Anthroposophie entstand eine neue Pädagogik (Waldorfschulbewegung mit z. Z. über 100 Schulen), die heilpädagogische Bewegung (mit z. Z. über 100 Heil- und Erziehungsinstituten für seelenpflegebedürftige Kinder), eine Befruchtung der Landwirtschaft (Biologisch-dynamische Wirtschaftsweise, Demeter-Bewegung), die Schöpfung einer neuen Bewegungskunst, der „Eurythmie“, die Erneuerung verschiedender künstlerischer Bereiche, wie Rezitation, dramatische Kunst, Malerei, Plastik, Architektur (Goetheanumbau in Dornach als Ausgangspunkt einer sich kontinuierlich entfaltenden Architektur) und die Erarbeitung von Grundprinzipien für eine neue soziale Gestaltung27,28.

Die anthroposophische Medizin
Rudolf Steiner setzte sich sehr frühzeitig mit den Grundfragen von Krankheit und Gesundheit und mit der Bedeutung des Krankseins für die – generelle und individuelle – menschliche Evolution auseinander. Er untersuchte, inwiefern Krankheit aus einem abnormen Zusammenwirken des Seelisch-Geistigen einerseits mit dem Leiblich-Lebendigen andererseits entstehen kann29,30. Ein Organismusbegriff, der das Zusammenwirken eines Physisch-Lebendigen mit einem realen Seelisch-Geistigen beinhaltet, erfordert auch einen anderen Substanzbegriff, als ihn Physik und Chemie gegenwärtig bieten. Der angemessene Substanzbegriff muß davon ausgehen, daß die chemische Struktur nur eine Ebene darstellt und daß bei der Aufnahme in den Organismus gewissermaßen in einer anderen Dimension eine Verarbeitung erfolgt, die eine Fremdsubstanz zur körpereigenen  Substanz umgestaltet, d. h., die Substanz wird verlebendigt und durchseelt. Auf die Berechtigung eines solchen Substanzbegriffes weisen die Erfahrungen der Immunologie hin. (Jede aufgenommene Substanz wird „abgefragt“, ob sie „Selbst“ oder „Nicht-Selbst“ ist. Im letzteren Falle wird sie auf dem Wege der humoralen oder zellulären Immunität abgewehrt oder so weit verarbeitet, daß sie „Selbst“ werden kann. Es können ganze Organe den „Selbst“-Charakter verlieren und wie Fremdkörper behandelt werden – die sog. Autoaggressionskrankheiten.) Der anthroposophische Substanz- und Stoffwechselbegriff ist aber noch umfassender. Das außermenschliche Naturreich wird in einer konkreten Beziehung zur menschlichen Organisation gesehen, und zwar in der Weise, daß es im Laufe der Evolution gewissermaßen aus der Menschheit herausgesetzt wurde, aber trotz der Verfremdung die Grundbeziehungen beibehalten hat. Auf dieser Beziehung beruht die Tatsache, daß es in der Natur Heilmittel gibt, die wie Schlüssel zum Schlüsselloch passen – wie z. B. Digitalis zum Herzen –, und daß solche Beziehungen von allen Kulturen schon in frühesten Zeiten der Menschheit entdeckt wurden. Diese entwicklungsgeschichtliche Beziehung ergibt die Möglichkeit einer rationalen Therapie auf der Basis der Erkenntnis des inneren Zusammenhangs irgendeines Naturprozesses mit bestimmten Vorgängen in der menschlichen Organisation. Wenn man die Evolution der Tierwelt in die menschliche Organisation zurückmetamorphosiert, läßt sich auch eine rationale Interpretation pharmakologischer und toxikologischer Untersuchungen am Tier im Hinblick auf den therapeutischen Wert für den Menschen finden.
Die Einführung einer therapeutischen Substanz in den Organismus bedeutet immer eine Art Attacke, mit der sich der Organismus auseinandersetzen muß. Der Wert eines therapeutischen Eingriffs liegt im wesentlichen im Aufrufen derjenigen Selbstheilungskräfte, die durch eine Verstärkung die Gesundheit wiederherstellen. Insofern bedeutet Therapie nicht nur eine ‚restitutio ad integrum‘, sondern eine innere Stärkung der Individualität, indem sie sich mit der Krankheit als einer besonderen krisenhaften Schicksalssituation im Leibe auseinandersetzt. Therapeutische Maßnahmen dürfen somit nicht nur am schnellen Verschwinden der Krankheitssymptome bewertet werden, sondern auch an ihrer Auswirkung auf die Selbstverwirklichung der Individualität. Die Infektionskrankheiten können nicht nur als eine Attacke feindlicher Keime auf den Organismus angesehen werden. Die Besiedelung mit abnormen Keimen oder das Virulentwerden saprophytärer Flora ist nur durch eine Änderung des inneren Milieus zu verstehen, so daß nach tieferen innerleiblichen Ursachen der Infektionskrankheiten gefragt werden muß. Diese Auffassung, die vor 50 Jahren entwickelt wurde, hat durch die neueren Erkenntnisse der Infektiologie zunehmende Stützung erfahren. In ähnlicher Weise sind neue Konzepte für die Interpretation und Behandlung der Geschwulstkrankheiten, Herz- und Kreislauferkrankungen, der sog. degenerativen Erkrankungen etc. entstanden.
Die anthroposophische Medizin ist der Beginn einer neuen Entwicklung in der Medizin, die eine weitere rationale Durchdringung der Auffassung von Krankheit und Heilung erlaubt, soweit man bereit ist, sich auf Grundfragen der Erkenntnistheorie einzulassen und das denkende Sichselbsterfassen des „Ichs“ als geistig Seiendes anzuerkennen.

Gerhard Kienle, Anthroposophische Medizin.
In: Wörterbuch medizinischer Grundbegriffe. Eine Einführung in die Heilkunde in 86 Artikeln.
(Hrsg. E. Seidler) S. 33-37, Herder Verlag, Freiburg 1979.


Literatur

  1. Steiner R. Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie). (1884-1897). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1987, 350 S.
  2. Steiner R. Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung; mit besonderer Rücksicht auf Schiller. Zugleich eine Zugabe zu Goethes "Naturwissenschafltichen Schriften" in Kürschners "Deutsche National-Literatur". (1886). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1979, 150 S.
  3. Steiner R. Goethes Weltanschauung. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1990, 246 S.
  4. Steiner R. Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer "Philosophie der Freiheit" (1892). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1980. 98 S.
  5. Steiner R. Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung - Seelische Beobachtungsresultate nach wissenschaftlicher Methode. (1894). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1995, 288 S.
  6. Steiner R. Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschuung. (1901). Dornach:  Rudolf Steiner Verlag; 1987, 174 S.
  7. Steiner R. Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung. (1904). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1987, 214 S.
  8. Steiner R. Die Geheimwissenschaft im Umriß. (1910). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1989, 456 S.
  9. Steiner R. Philosophie und Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze 1904-1923. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1984, 484 S.
  10. Steiner R. Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1904/05). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1993, 235 S.
  11. Steiner R. Die Stufen der höheren Erkenntnis. (1905-1908). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1993, 91 S.
  12. Steiner R. Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen. In acht Meditationen. (1912). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1982, 94 S.
  13. Steiner R. Naturbeobachtung; Experiment; Mathematik und die Erkenntnisstufen der Geistesforschung. (1921). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1991, 160 S.
  14. Steiner R. Grenzen der Naturerkenntnis und ihre Überwindung. (1920). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1981, 140 S.
  15. Steiner R. Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwicklung. (1923). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1977, 172 S.
  16. Steiner R. Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit. (1911). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1987, 95 S.
  17. Steiner R. Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt. (1914) . Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1985, 696.
  18. Steiner R. Vom Menschenrätsel. Ausgesprochenes und Unausgesprochenes im Denken; Schauen; Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten. (1916). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1983, 182 S.
  19. Steiner R. Von Seelenrätseln. Anthropologie und Anthroposophie; Max Dessoir über Anthroposophie; Franz Brentano (Ein Nachruf). Skizzenhafte Erweiterungen. (1917). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1983, 182 S.
  20. Steiner R. Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung. (1911/12). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1983, 536 S.
  21. Steiner R. Aus dem mitteleuropäischen Geistesleben. (1915/16). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1962.
  22. Steiner R. Die Philosophie des Thomas von Aquino. (1920). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1993, 174 S.
  23. Steiner R. Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwicklung der Menschheit seit dem Altertum. (1921). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1989, 180 S.
  24. Steiner R. Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie. (1918).  Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1987, 400 S.
  25. Steiner R. Anthroposophie; ihre Erkenntniswurzeln und Lebensfrüchte. (1921). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1986, 184 S.
  26. Steiner R. Damit der Mensch ganz Mensch werde. Die Bedeutung der Anthroposophie im Geistesleben der Gegenwart. (1922). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1994, 264 S.
  27. Steiner R. Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1982, 496 S.
  28. Steiner R. Der Kernpunkte der Sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. (1919). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1976, 166 S.
  29. Steiner R. Geisteswissenschaft und Medizin. (1920). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1985, 392 S.
  30. Steiner R. Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. (1925). Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1991, 144 S.